Kinder sind anders“ - das wusste schon Maria Montessori. Erwachsene verstehen das oft so, dass Kinder noch „unfertig“ sind: Sie verfügen noch nicht über die Fähigkeiten, über die Erwachsene verfügen. Anders meint also noch nicht ganz wie die Erwachsenen. Kinder müssen erst noch lernen, so zu sein wie „die Großen“. Was aber, wenn der Satz bedeutet: Kinder sind tatsächlich ganz anders? Sie unterscheiden sich grund-legend von Erwachsenen.

Am Spiel von Kindern lässt sich das entdecken: Was Kinder von Anfang an spielen, unterscheidet sich grundlegend von den Spielen, die sie später lernen.

Wenn wir beobachten, wie sich kleine Kinder auf ihrem Laufrad vorwärts bewegen, erscheint es für uns offensicht-lich, dass sie noch nicht ordentlich geradeaus fahren können (so wie wir) und sie deshalb Schlangenlinien fahren. Wir können uns kaum vorstellen, dass sie tatsächlich auch so fahren wollen! Malt man den Weg auf, den ein Kind dabei zurück legt, ist die Ähnlichkeit mit dem natürlichen Lauf eines Baches offensichtlich: gewunden und in seinem weiteren Verlauf nicht vorhersehbar. Der Weg, den wir fahren, hätte dagegen eher das Aussehen einer Schnellstraße oder von Schienen: überwiegend gerade Strecken, mit Kurvenstücken zur Richtungsänderung dazwischen. Ist es vorstellbar, dass das, was die Kinder machen, weder unbeholfen noch zufällig ist? Immerhin breiten sich auch Bäche auf die gleiche Weise aus und bewegen sich so vorwärts? Kann es sein, dass wir blind sind für ein Bewegen, das ganz anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, als unser eigenes Bewegen?

Kinder sehen die Welt mit anderen Augen. Alles um sie herum steckt voller Überraschungen, nichts ist eindeutig, nichts ist festgelegt. Die Welt lädt sie ein zu permanentem Staunen und zu ständigen Entdeckungen. Voller Neugier begeben sich Kinder in ein Abenteuer nach dem anderen. Sie erkunden die Welt, berühren sie und lassen sich von ihr berühren, ohne dabei eine konkrete Absicht oder ein Ziel zu verfolgen. Alles erscheint voller Möglichkeiten, voller Geheimnisse. Alles ist ebenso vielversprechend wie wunderbar.

Im Kontakt und im Austausch mit der Welt lernen Kinder sich und ihre Umgebung kennen und erweitern dabei ihre Möglich-keiten. Für die Begegnung mit dem Unbekannten verfügen Kinder von Anfang an über ein perfektes Programm: Spiel.

Dieses „Betriebssystem“ lässt sich etwa so beschreiben: Wer noch nicht weiß, wie etwas funktioniert, findet es durch Ausprobieren heraus. Spiele und lerne dabei. So führt das immer kompetentere Spiel mit der Schwerkraft erst zum Aufrichten, dann zum Aufstellen und schließlich sogar zur Vorwärtsbewegung, zum Gehen. Doch anders als das Probieren von Erwachsenen ist dieses spielerische Ausprobieren nicht zielgerichtet. Es ist nicht ein Weg zu einem beabsichtigten Ergebnis. Ausprobieren ist keine Methode, um etwas zu erreichen. Kinder nehmen sich nicht vor Gehen zu lernen, sie tun es einfach, fast nebenbei. Diese Einstellung hat Picasso zum Ausdruck gebracht, als er gesagt hat: „Ich suche nicht, ich finde.“

Das „Betriebssystem“ Erwachsener unterscheidet sich deutlich von diesem ursprünglichen Spiel der Kinder: Erwachsene verfolgen bei ihrem Handeln einen Zweck. Sie tun etwas, um etwas zu erreichen. Ihr Tun will die Gegenwart verändern und ist in die Zukunft gerichtet. Kinder dagegen sind im Spiel ganz dem Augenblick zugewandt und reagieren unmittelbar auf das, was da ist. Ihr Tun und Bewegen ist nicht davon bestimmt, dass sie etwas erreichen wollen. Das unterscheidet ursprüngliches Spielen auch von den kulturellen Spielen. Kulturelle Spiele haben Regeln und Ziele. Sie müssen gelernt werden und sind abhängig von der Kultur, in der die Kinder aufwachsen. Ursprüngliches Spiel dagegen ist universell. Niemand bringt es den Kindern bei, sie werden mit der Fähigkeit zu spielen geboren.

Ohne dass es ihnen jemand sagt, laufen Kinder lachend hinter einander her. Wer vorne läuft, blickt dabei immer wieder zurück und lässt den Abstand nicht zu groß werden. Irgendwann endet das Ganze in einer lachenden Umarmung - und fängt wieder von Neuem an.

Wenn Erwachsene dieses Spiel beobachten, ist für sie schnell offensichtlich: Die spielen „Fangen“ - nur noch nicht ganz richtig. Also „helfen“ sie den Kindern mit aufmunternden Kommentaren: „Schneller!“, „Gleich hast du ihn!“, „Beeil dich!“  usw. Die Erwachsenen bemerken gar nicht, wie sie aus einem ursprünglichen Spielen, das um Verbundenheit, Freude und Zusammensein kreiste, ein kulturelles Spiel machen, das auf Wettbewerb und Konkurrenz basiert. Es ist ihnen auch nicht bewusst, dass sie den Kindern damit zugleich die Grundüber-zeugungen ihrer Kultur weitergeben, die sie selber längst verinnerlicht haben: „Es ist gut, Erster zu sein.“ „Es lohnt sich, sich anzustrengen.“ „Nur Gewinnen bringt Spaß.“

Von all dem weiß das ursprüngliche Spiel nichts. Es benötigt keine Regeln, hat kein Ziel, kennt keine Anstrengung und kein Bemühen. Auch Zeit spielt eine andere Rolle. Es gibt nicht die Zeit der Anstrengung bis zum Erfolg und die des Triumphes oder des Scheiterns danach. Jeder Moment ist erfüllte Freude. Jeder Moment ist getragen von Gemeinsamkeit. Beim Fangen dagegen ist entscheidend, wer schneller ist. Dieser Unterschied erzeugt erst  „Sieger“ und „Verlierer“. Beim Zusammen-Laufen ist nicht wichtig, wer wie schnell ist. Wer mitläuft, kann sich mit freuen. Was auf dem Weg passiert, sind lauter Überraschungen. Kommen beide zusammen, ist es ein Fest.

Was oberflächlich betrachtet durchaus ähnlich aussieht - zwei Kinder laufen hintereinander her - unterscheidet sich im Erleben der Spielenden deutlich; „Weglaufen“ und „Zusammenlaufen“ sind grundverschieden.

Um Ursprüngliches Spiel entdecken zu können, müssen sich Erwachsene auf das Wagnis einlassen, dass Kinder vielleicht etwas ganz anderes tun, wenn sie spielen, als für die Erwachsenen offensichtlich erscheint.

Magische Kindheit - verzauberte Welt